Der Blick nach Innen

Der Blick nach Innen

Wir sind uns niemals so treu wie in den Augenblicken der Inkonsequenz.
Oscar Wilde


Im letzten Newsletter Beitrag habe ich über die Problematik von Motiven in der Malerei geschrieben. Dabei war der Fokus auf die Motivsuche in der äußeren Welt gerichtet. Wer hier einen Schritt weitergehen möchte, der kann auch noch ein anderes Universum betreten und den Blick nach Innen richten.

Der Bilderreichtum im Inneren unseres Bewusstseins, ist ähnlich komplex wie der, den wir in der äußeren Wirklichkeit wahrnehmen.

Dieses Reservoir von Bildern, Formen und Zeichen, die in jedem von uns vorhanden sind, kann nicht abfotografiert werden, und es verschließt sich darüber hinaus auch den gewohnten Techniken der Beobachtung. Um es dennoch greifbar zu machen, bedarf es anderer Methoden, Strategien und Übungen.

Seismografische Wellen

Wer sich seiner inneren Bilderwelt nähern möchte, braucht nur einfaches Rüstzeug, wie einen Stift und ein Blatt Papier. Die Hand dient als Seismograph, der die Bewegungen unseres Bewusstseins sichtbar machen kann. 

Um diese Sensibilität zu entwickeln, bedarf es regelmäßiger, ja täglicher Übung.

Es ist wie die Arbeit im Bergwerk des eigenen Bewusstseins. Schicht um Schicht muss der Vergangenheitsabraum und die Konditionierungs-schlacke abgetragen werden.

Wer einmal den Versuch gestartet hat, einfach und ohne Absicht den Stift über das Papier wandern zu lassen, wird festgestellt haben, dass zunächst einmal verbrauchte, stereotype Formen wie Herzchen, stilisierte Blümchen... usw. erscheinen. Dies ist kein Zeichen von Naivität und Phantasielosigkeit, sondern nur der erste Impuls und ein wichtiger Schritt.

Wenn genug davon zu Papier gebracht ist, werden diese, seit Kindestagen angelernten Piktogramme, wieder verschwinden.

In der nächsten Schicht kommen oft die Urformen zu Tage, die wir alle in uns tragen, als da sind Spiralen, Kreise, Strichmännchen……das sind die in unseren Genen fest verankerten Archetypen, die sich in allen menschlichen Kulturen ihren Weg an die Oberfläche gebahnt haben.

Auch diese Urformen gilt es zu visualisieren, zu interpretieren und zu verarbeiten, bevor man sich auch durch diese nicht unbedeutende Schicht hindurch gegraben hat.

Seltene Schätze

Wer mit künstlerischem Anspruch auf der Suche nach den eigenen, einmaligen, unverbrauchten Formen ist, robbt tiefer in den Berg hinein um, mit Neugier und Beharrlichkeit, die seltensten Schätze zu heben.

Nicht wenige Kreative unterliegen leider dem Irrtum, dass die schon tausendmal gesehenen künstlerischen Versatzstücke, die sie in den oberen Schichten ihres Bewusstseins ausgraben, authentische Produkte ihrer künstlerischen Einzigartigkeit seien. Oder sie geben sich mit dieser künstlerischen Billigware zufrieden, weil ein Weitergraben in tiefere Schichten, ihnen zu viel der Anstrengung abverlangen würde.

Dabei ist auf dem Weg in die tieferen Zonen des eigenen (Unter-) Bewusstseins, bloße Anstrengung sogar kontraproduktiv. Eher ist eine unfokussierte Konzentration als passenderes Werkzeug zu nennen.

Beobachten Sie ohne Analyse und Bewertung das, was auf dem Blatt geschieht. Niemand kann einem dabei helfen. Niemanden geht das Ergebnis etwas an.

Sind Ihnen die aus Ihrem Inneren aufgetauchten Formen seltsam fremd, unverständlich und so gar nicht Ihren Erwartungen entsprechend, ist das in vielen Fällen nur das Zeichen, eines gelungenen Zugangs zu tieferen Schichten ihrer künstlerischen Persönlichkeit.

Vielleicht sind es erst einmal nur Linien, nur Bewegungen, bevor dann Rhythmen, Formen und Zeichen und komplexere Bilderelemente vor Ihnen entstehen.

In einer Zeit der schnellen Erfolge, in einer Zeit, in der dem virtuosen Umgang mit spektakulären Plattitüden viel Anerkennung zu Teil wird, erscheint dieser Weg nach Innen auf den ersten Blick wenig Aufsehen erregend und mühsam.

Faszinierende Welten

Jedoch ist es faszinierend eine Welt, jenseits der äußeren Realität zu betreten, die doch gleichzeitig die eigene ist. Hier kann man ein eigenes, einzigartiges Bilderrepertoire, eine eigene künstlerische Sprache finden, abseits von verbrauchten Symbolen und ausgetretenen Wegen.

Ein vollgekritzeltes Skizzenbuch könnte der erste Schritt sein, um von der Peripherie ins Zentrum unseres eigenen Bewusstseins zu gelangen.

Es hat etwas Leichtes, sich mit dem Stift über das Papier zu bewegen. Es muss nichts dabei herauskommen, es gibt kein Konzept, es gibt kein Richtig oder Falsch. Es gibt nur den Arm und die Hand, Ruhe im Kopf und viel Zeit.

 

Volker Altrichter, Künstler und Dozent